Acht - Extended Edition
-16%
"Sie nennen sich Magier, aber ich nenne sie Monster!"
Ein Entrümpelungsjob in einer verlassenen Villa endet für den notorischen Pechvogel Alex Richter mit dem Erwachen im Krankenhaus.
Kaum entlassen, beginnt ihm sein Leben mehr und mehr zu entgleiten, bis er kaum noch zwischen Realität und Einbildung unterscheiden kann. Gefangen in einem blutigen Albtraum, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint, muss Alex realisieren, dass manche Geheimnisse der Vergangenheit besser vergessen bleiben sollten.
Die Bestandteile des Buchpakets :
- Acht in signierter Version
- ein Lesezeichen in Schwertform. Wahlweise auch als Brieföffner, Deko oder Haarnadel nutzbar
- eine Tafel Noir Chili Schokolade von GEPA
- eine Lavendelduftkerze
- Paschouli Räucherkerzen
- ein Kuvert mit drei Postkarten: zwei Illustrationen aus dem Buch sowie das Cover in Bildform
- "Leseauszeit" Eine kleine Tee- und Snackstunde mit Kräutertee, Kakao, Instantkaffee, Studentenfutter, Kluntjes und drei Rezepten (Jessys Mörderchili, Sperlings Käsekuchen und Honig-Sesam-Hähnchen mit Bulgur)
- ein kleiner Anhänger in Spinnenform
- ein selbstgenähter Beutel, in dem das Buch geliefert wird
Prolog
Versonnen betrachtete Professor Alexei Sorokin den Regen, der in stürmischen Wogen gegen die Fensterscheibe seines Büros prasselte. Eine Straßenlaterne spendete vor dem Gebäude gerade noch genug Licht, um das Ausmaß des Wolkenbruchs sichtbar zu machen, der über Sankt Petersburg niederging. Ein typischer Frühlingsabend in Russland eben, der in keinster Weise dazu beitrug, eine Lösung für das Problem zu finden, über dem er seit geraumer Zeit brütete.
Ein jähes Telefonklingeln zerriss die Stille im Raum und ließ Sorokin erschreckt auffahren. Reflexhaft griff er zum Hörer, um ein ärgerliches »Ja?« in die Sprechmuschel zu bellen.
»Guten Abend, Herr Professor!«, grüßte ihn eine akzentschwere Stimme in seiner Muttersprache. »Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«
Jäher Zorn wallte in Sorokin auf. »Mehr als das, was ich Ihnen bereits gesagt habe, werden Sie von mir nicht erfahren, egal was Sie mir bieten!« Ohne auch nur auf eine Antwort zu warten, knallte er den Hörer zurück auf die Gabel, schloss die Augen und atmete tief durch. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Ärger über den aufdringlichen Schnösel wieder verrauchte.
»Einen noch ...«, murmelte Sorokin schließlich mit brüchiger Stimme, um anschließend zum wiederholten Male an diesem Abend die zweite Schublade seines Schreibtisches zu öffnen, in der sich nur eine halbvolle Flasche Wodka und ein Glas befanden. Mit leicht zitternden Händen schenkte er sich ein, prostete seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu und kippte die klare Flüssigkeit in einem Zug.
Nach einem kurzen Hustenanfall wandte sich der alte Mann erneut dem Manuskript zu, über dem er nun schon seit mehreren Stunden saß. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand über den Bart und konnte seine Augen nicht von dem lateinischen Text nehmen, der aus der Feder eines Franziskanermönches von vor fast vierhundert Jahren stammte.
Eine halbe Stunde später gab er es auf, die einzelnen Seiten sortieren zu wollen und zog sich mit einem frustrierten Schnauben die Schutzhandschuhe aus, die er nun schon den halben Tag trug. Beide landeten auf seiner Schreibtischplatte, direkt neben der ihn immer noch anlächelnden Flasche.
»Morgen ist auch noch ein Tag!«, brummte er, warf den Pergamentstapeln einen verdrießlichen Blick zu und erhob sich. Sein Weg führte ihn zu der Garderobe seines Büros, doch auf halbem Weg ließ ihn das erneute Schellen des Telefons innehalten.
»Wenn das jetzt wieder du bist, ...«, knurrte der Professor, während er schon zum Schreibtisch zurück hastete. »Was?«, fauchte er. Und tatsächlich ertönte ein weiteres Mal die Stimme des Unbekannten. »Ich schätze eine gute Unterhaltung vor allem dann, wenn sie zivilisiert geführt wird. Leider enttäuschen Sie in dieser Hinsicht!« Eine kurze Pause folgte, in der Sorokin aus dem Hörer nur das Prasseln des Regens vernahm. »Sehen Sie aus dem Fenster! Ich komme jetzt zu Ihnen, danach setzen wir dieses Gespräch in einem gebührenden Rahmen fort!«
Dieses Mal wurde der Anruf von der Gegenseite unterbrochen.
Der Historiker konnte nicht anders: Er eilte zum Fenster und versuchte durch die Wasserschlieren etwas zu erkennen, die immer noch an der Scheibe herunterliefen. Unten trat eben ein Mann aus der Dunkelheit in den Schein der Straßenlampe und verharrte dort einen Moment lang, um zu Sorokin hochzusehen. In jähem Erkennen weiteten sich die Augen des Professors vor Schreck.
Hastig wandte er sich ab, um zu dem Ölgemälde Lenins zu eilen, das den Wandbereich hinter seinem Schreibtisch zierte. Mit fliegenden Fingern zog er es beiseite, um gleich darauf den kleinen Tresor zu entriegeln, der sich dahinter versteckte.
Sorokin griff sich hektisch den keltischen Antennendolch, der darin lag. Unter normalen Umständen hätte er nicht gewagt, das liebevoll restaurierte Stück mit bloßen Händen zu berühren, doch gerade gehörte bewusstes Denken nicht mehr zu seinen Stärken.
Dergestalt bewaffnet nahm er in der Mitte des Raumes Aufstellung, hob den Dolch und flüsterte Worte, die ihm schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr über die Lippen gekommen waren. Dennoch verspürte er alsbald das altbekannte und sehr beruhigende Prickeln, als der simple Schutzzauber seine Wirkung zu entfalten begann.
Beständig wiederholte er die Formel, bis das Telefon auf dem Schreibtisch ein weiteres Mal klingelte … und nicht mehr damit aufhörte. Das schrille Läuten des uralten Apparates begann schon bald an den zerrütteten Nerven Sorokins zu feilen, bis er entnervt in die Richtung des Gerätes sah.
Mit einem Knall wurde die Bürotür aufgetreten und verfehlte den Professor nur knapp. Völlig aus der Bahn geworfen, versuchte er sich wieder auf seinen Spruch zu konzentrieren, doch war der Mann, der nun in der Tür stand, schneller.
Bevor der Professor auch nur den Mund aufbekam, rauschte das Brecheisen in der Hand des Fremden auf das Handgelenk Sorokins herab und zertrümmerte es. Der schmerzgepeinigte Schrei des Mannes hallte durch das Büro und endete jäh, als der Fremde ihm das Werkzeug in die Magengrube drosch.
Wie ein Klappmesser knickte der Historiker zusammen und sank japsend auf die Knie, wobei er das verletzte Handgelenk gegen seine Brust presste. »Was wollen Sie?«, keuchte er mühsam.
»Das wissen Sie genau und in ihrem ureigensten Interesse sollten Sie mich nicht mehr zu lange warten lassen!«, schnarrte der Fremde und wog das Brecheisen in der Hand. Sorokin Blick huschte zu dem in einiger Entfernung liegenden Dolch, aber er würde es nie bis dorthin schaffen.
Sein Besucher folgte ihm mit den Augen, um mit einem Lächeln zu der Waffe zu schlendern und sie aufzuheben. Versonnen betrachtete er den Fokus. »Ein wunderschönes Stück!«, stellte er fest. »Ein keltisches Original, oder?«
Sorokin schwieg, also wandte sich der Mann dem Historiker erneut zu, wobei er die Faust nun um den Griff des kurzen Ritualdolches ballte. »Eine Antwort, dann sind Sie mich los! Und mit Madrid brauchen Sie gar nicht wieder anfangen! Dort war ich schon!« Ruhig sah er den zusammengekrümmten Mann an.
»Deutschland! Er ist nach Deutschland gegangen!«, presste dieser nach einigen schmerzerfüllten Atemzügen heraus. »Regensburg. Aber mehr weiß ich nicht! Und jetzt verschwinden Sie und fahren zur Hölle!«
Der Mann hob einen Mundwinkel, als er gemächlich auf Sorokin zuging und das Brecheisen hob.
»Da komme ich her, mein Lieber!«
1. Kapitel
Alex konnte nicht genau sagen, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Kandidaten hierfür existierten reichlich, wie zum Beispiel die allmorgendliche Lärmcollage aus mehr als einem Dutzend Kirchtürme der Regensburger Altstadt. Dann gab es da noch den lärmenden Staubsauger aus der Nachbarwohnung oder der auf Hirnschmelze aufgedrehte Hip-Hop aus dem Nebenhaus.
Eine Weile blieb der ehemalige Student noch liegen und starrte schlaftrunken in Richtung Tisch, wo ein halbvolles Glas Cola vom Vortag stand. Darin konnte man herrlich die Vibrationswellen beobachten, die mit jedem der Bassschläge des aktuellen Songs einhergingen.
Bevor sein auf Sparflamme arbeitender Verstand aber die ersten Gegenmaßnahmen formulieren konnte, übernahmen andere Hirnzentren das Sagen. Automatenhaft stemmte er sich aus dem Bett hoch und streckte sich zunächst einmal ausgiebig, um dann aus dem Bett zu steigen. Als er ein vergilbtes Foto an der Wand erblickte, verdüsterte sich die Miene des jungen Mannes schlagartig. Der Anblick seiner Ex, die ihm auf dem Bild frech grinsend die Zunge herausstreckte, während sie auf einer Kaimauer entlang der Donau balancierte, wirkte sich wenig Laune fördernd auf ihn aus.
Also krabbelte er nochmal über das Doppelbett, in dem nur noch eine von ehemals zwei Matratzen existierte, um das Foto abzureißen. Dabei machte sich Alex nicht die Mühe, auch den zugehörigen Reißnagel aus der Wand zu entfernen. Anschließend warf er es kurzerhand in einen Mülleimer und schlurfte in den Gang hinaus.
Zu seiner Freude fand er die Badezimmertür nur angelehnt vor. Tage, an denen man in einer vier Personen WG auf Anhieb das Bad unbesetzt erwischte, qualifizierten sich normalerweise für einen Kalendereintrag. Lediglich Miss Daisy, die WG-Katze, protestierte energisch maunzend gegen die Störung ihrer Morgentoilette.
Davon unberührt widmete sich Alex zunächst der Zahnhygiene und ging gleichzeitig der Frage nach, ob das heutige Tagesgeschehen Dusche und Rasur rechtfertigte. Sein Blick fiel dabei auf den Spruch, den ein ehemaliger Mitbewohner über dem Spiegel mit einem dicken Filzstift verewigt hatte: Grunge ist in!
Ganz in diesem Sinne warf er sich nur ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht und schlenderte in Richtung Küche. Neben der Zubereitung von Mahlzeiten stellte jener Ort auch das soziale Zentrum der Wohnung dar. Und noch viel wichtiger: Dort stand die Kaffeemaschine!
Galant überstieg er zunächst zwei volle Müllbeutel, um sich im Anschluss in der verwaisten Küche umzuschauen, die sich momentan vor allem durch einen eklatanten Mangel von genussfertigem Kaffee auszeichnete. Ein Missstand, den er sofort abzustellen gedachte.
Bald schon saß er auf einem der wackligen Küchenstühle, woraufhin sich Miss Daisy taktisch günstig auf seinem Schoß niederließ. Nach Katzenlogik brauchte er wohl nur eine Hand zum Kaffeetrinken, die andere konnte gewinnbringend für Streichel-einheiten eingesetzt werden. Im Tausch dafür gab es auch reichlich Katzenhaare. So ließ sich Alex eine Weile von der Morgensonne den Rücken wärmen, bis schließlich die Tür aufging und eine seiner Mitbewohnerinnen hereinkam. Nur gekleidet in T-Shirt und Shorts stakste Jessy ebenfalls über die beiden Müllbeutel hinweg und wäre dabei fast auf die empört flüchtende Katze getreten, die ihr eigentlich zur Begrüßung entgegengekommen war.
Alex wurde kurz mit einem verschlafenen Winken bedacht, ehe sich Jessy über die Kaffeekanne hermachte. Der Geruch frisch aufgebrühten Kaffees fungierte von je her als universelles Weckmittel in dieser WG, schon deswegen hatte er mehr als genug davon aufgesetzt. Und ganz nebenbei konnte er so Jessy eine geraume Weile ungeniert anstarren. Selbst jetzt, verquollen vom Schlaf und ohne extensiven Einsatz einer Schminkflinte, sah sie einfach zum Anbeißen aus. Bis zur Hüfte reichende, dunkelrote Haare standen im Kontrast zu einer hellen Haut und einem wilden Rudel Sommersprossen um die Nasengegend herum. Alex konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob ihre grünen Augen nicht auf Kontaktlinsen beruhten, aber so oder so passten sie ganz ausgezeichnet zum Rest des Äußeren seiner Mitbewohnerin. Hinzu kam, dass man Jessys Figur am besten mit „Wofür Männer töten!“ umschreiben konnte.
Schnell schob er sich ankündigende Gedanken unzüchtiger Natur beiseite. Jessy stellte eine absolute Tabuzone für ihn dar und das gleich aus mehreren Gründen: Zum einem lag das schmerzliche Ende der letzten Beziehung von Alex noch nicht allzu lange zurück und der Stachel der Zurückweisung steckte immer noch tief.
Und zum anderen gehörte die, sich mit einer Unzahl von Jobs über Wasser haltende, Lebenskünstlerin zu jenem kleinen und erlesenen Kreis von Menschen, die Alex uneingeschränkt als Freund bezeichnen konnte. Nicht nur verdankte er ihr seinen Platz in dieser WG, nein, im Laufe der Zeit wären einige unschöne Situationen ohne Jessys tatkräftige Hilfe auch weitaus übler für Alex ausgegangen. Erst mit Beginn seiner letzten Beziehung hatte sie sich etwas mehr zurückgezogen, wohl auch, weil sie sich ebenfalls seit einiger Zeit in festen Händen befand. Für Alex war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch ihr Zimmer freiwerden würde.
Bald machte sich Jessy mit einer Tasse und etwas Essbarem aus dem Kühlschrank auf den Rückweg in ihr Zimmer, womit Alex allein in der Küche zurückblieb. Mangels anderer Beschäftigung starrte er eine Weile in die teerschwarze Finsternis seiner Tasse und lauschte auf die Geräusche der Stadt.
Außerhalb der Wohnung schien Regensburg langsam zum Leben zu erwachen. Das Morgenläuten war schon vor einer Weile vom mittlerweile obligatorischen Lärm der Touristengruppen am Domplatz ersetzt worden. Alex konnte die, von den Touristikführern erzählten, Geschichten inzwischen im Schlaf aufsagen. Dennoch blieb er sitzen und lauschte zum wiederholten Male der Mär des mittelalterlichen Wettstreits zwischen Dombaumeister und Brückenbaumeister. Gerade als sich die Erzählung unten dem Ende zuneigte, wurde das Schloss der Wohnungstür betätigt und kurze Zeit später öffnete sich die Küchentür. Automatisch griff Alex nach einer bestimmten Steingut-Tasse im Regal neben sich, schenkte ein, um sie sie alsbald Sven, einem weiteren seiner Mitbewohner, in die Hand zu drücken.
Der Leipziger bedankte sich mit einem einsilbigen Grunzen und machte es sich Alex gegenüber am Küchentisch bequem. Einträchtiges Schweigen breitete sich in der Küche aus, nur unterbrochen vom Straßenlärm und dem regelmäßigen Ticktack der Uhr. Den Beginn dieses gemeinsamen Rituals, das sich so nahezu jeden Tag wiederholte, konnte Alex noch in die eigene Studienzeit zurückverfolgen, während der er ebenfalls zu unmenschlichen Zeiten sein Zubrot verdient hatte.
Etwa zehn Minuten später zog der Kaffeeduft auch den letzten Bewohner der WG an, was das Ende der einträchtigen Ruhe bedeutete. Mit Miss Daisy als Vorhut kam Jochen in die Küche geschlurft.
Der Philosophiestudent sah aus, als habe er die Nacht wieder einmal über irgendwelchen Büchern verbracht. Einsilbig brummelte er einen Gruß und leerte die Kaffeekanne in eine mitgebrachte Tasse. Wenigstens besaß er den Anstand, anschließend eine Neue aufzusetzen. Wie auch Jessy gehörte er zum inneren Kreis der Gemeinschaft und schien sein Studentenleben auf absehbare Zeit noch nicht beenden zu wollen. Alex konnte den mitunter etwas altklug klingenden Mittdreißiger, der unangefochten den Posten des WG-Ältesten belegte, verdammt gut leiden.
Während der neue Kaffee durch die Maschine lief und Jochen den Kühlschrank plünderte, erhob sich Sven. Er gähnte ungeniert mit weit offenem Mund, bevor er sich anschickte, die Küche zu verlassen. Prompt stolperte er über die beiden Müllsäcke nahe der Tür, was Alex und Jochen schadenfroh grinsen ließ, denn einer ungeschriebenen Regel zufolge fiel ihm damit der Mülldienst zu. Murrend schnappte er sich beide Säcke, um sie aus der Wohnung zu schaffen. Jochen gesellte sich derweil an den Tisch zu Alex und steckte seine Nase in ein mitgebrachtes Buch. Aus Erfahrung wusste Alex, dass die Chancen auf eine normale Konversation mit dem angehenden Philosophen ab jetzt gegen null tendierten.
Sven dagegen erwies sich nach seiner Rückkehr von der Müllexkursion als umso mitteilungsfreudiger und ließ Alex in klinisch exakten Details an den Ereignissen der letzten Nachtschicht teilhaben. Entweder entgingen ihm dabei die verzweifelten Blicke, die Alex zur Decke warf oder aber es kümmerte ihn einfach nicht.
Die WG-Katze hatte sich derweil abermals Alex als Opfer auserkoren und machte es sich wieder auf seinem Schoß bequem. Er begann sie erneut zu kraulen, was ihm mit genüsslichem Schnurren gedankt wurde. Trotz Svens Geplapper befand Alex, dass ihm wohl ein recht gemütlicher Tag ins Haus stand. In absehbarer Zeit musste somit die Essens- sowie die Abendplanung angegangen werden. Und wie üblich würde sich Jochen nur mit einem gelegentlichen Brummen beteiligen, während Jessy durch Abwesenheit glänzte.
Unvermittelt jedoch hob Jochen den Kopf, starrte ihn an und verengte die Augen. Alex entging die Haltungsänderung des angehenden Philosophen über den Rand seiner Tasse hinweg nicht, also setzte er sie ab und hob fragend die Brauen. »Sag mal, Alex? Hattest du nicht heute das Bewerbungsgespräch bei dieser Webdesign Firma?« Jochens Frage unterbrach den bislang nicht enden wollenden Erzählstrom von Sven, der ihn daraufhin beleidigt anstarrte, aber ignoriert wurde.
Ein eisiger Klumpen ballte sich in der Magengegend von Alex zusammen. Gleichzeitig verlangsamte sich die Welt irgendwie in Zeitlupe, bevor sein Verstand einen panischen Kickstart hinlegte. Er brachte nicht mehr als »Ach du Scheiße!« heraus und fuhr in die Höhe, sehr zum Unwillen von Miss Daisy, die mit ausgefahrenen Krallen ihre Position zu behaupten versuchte. Seine Oberschenkel brannten demzufolge wie Feuer, als er aus der Küche hetzte, die Kaffeetasse auf dem erstbesten Platz im Flur abstellte und Richtung Bad sprintete.
Hastig riss er den Wäschetrockner auf. Nach einigem Wühlen fand er das für das Gespräch vorgesehene Hemd, wobei nun energisches Ausschütteln zum Interim-Ersatz für fehlendes Bügeln wurde.
Mit einem Arm schon im Hemd hetzte er weiter in sein Zimmer, um dort aus einem Klamottenhaufen die zugehörige Jeans zu ziehen. Die beiden Ketchupflecken auf dem linken Hosenbein bemerkte er erst jetzt, aber für eine Reinigung blieb keine Zeit mehr. Also schlüpfte er hinein, stakste zum Schreibtisch und begann die dort aufgestapelten Unterlagen nach der glücklicherweise bereits vorbereiteten Bewerbungsmappe zu durchwühlen.
Ein hastiger Blick auf die Uhr besagte, dass ihm noch etwa zwanzig Minuten bis zu seinem Gesprächstermin blieben. Wenn sich nicht alle Schicksalsgötter gegen ihn verschworen hatten, bestand noch eine kleine Chance, rechtzeitig anzukommen.
Schon stürmte er durch den Flur hin zur Wohnungstür. Doch just in diesem Moment kam die Wohnungskatze im vollen Galopp aus der Küche gesprintet. Alex gelang es gerade noch auszuweichen, was ihn aber auf direkten Kollisionskurs mit dem kleinen Schränkchen im Flur brachte. Abermals wechselte seine Wahrnehmung in Zeitlupe. Detailliert, aber hilflos, musste er mitansehen, wie die von ihm dort zuvor abgestellte Kaffeetasse durch den Stoß ins Kippen geriet und ihren asphaltschwarzen Inhalt über seine Hose verteilte.
Fassungslos starrte Alex auf den sich ausbreitenden Fleck, um dann auf dem Fuße umzudrehen und zurück in sein Zimmer zu hetzen. Hektisches Suchen, begleitet von einigen maßlosen Flüchen, förderte in einem anderen Berg mit Kleidung eine Hose zutage, die gerade so als Ersatz dienen konnte.
Wieder zurück im Flur bückte er sich, hob die, nun ebenfalls mit Kaffeeflecken bedeckte Mappe auf und hetzte zur Wohnungstür hinaus. Im Treppenhaus nahm er gleich zwei Stufen auf einmal, warf unten die Haustür auf und sprintete los. Ein paar Schritte weiter hielt er aber erschrocken vor dem spiegelnden Glas eines Schaufensters inne: Seine Frisur konnte selbst mit viel Wohlwollen nur als chaotisch bezeichnet werden. Ein paar Mal fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass er mit einer Robert-Pattinson-Gedächtnisfrisur bei dem Termin aufkreuzen würde.
Fluchend begann Alex in Richtung Bushaltestelle zu rennen.
Versonnen betrachtete Professor Alexei Sorokin den Regen, der in stürmischen Wogen gegen die Fensterscheibe seines Büros prasselte. Eine Straßenlaterne spendete vor dem Gebäude gerade noch genug Licht, um das Ausmaß des Wolkenbruchs sichtbar zu machen, der über Sankt Petersburg niederging. Ein typischer Frühlingsabend in Russland eben, der in keinster Weise dazu beitrug, eine Lösung für das Problem zu finden, über dem er seit geraumer Zeit brütete.
Ein jähes Telefonklingeln zerriss die Stille im Raum und ließ Sorokin erschreckt auffahren. Reflexhaft griff er zum Hörer, um ein ärgerliches »Ja?« in die Sprechmuschel zu bellen.
»Guten Abend, Herr Professor!«, grüßte ihn eine akzentschwere Stimme in seiner Muttersprache. »Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«
Jäher Zorn wallte in Sorokin auf. »Mehr als das, was ich Ihnen bereits gesagt habe, werden Sie von mir nicht erfahren, egal was Sie mir bieten!« Ohne auch nur auf eine Antwort zu warten, knallte er den Hörer zurück auf die Gabel, schloss die Augen und atmete tief durch. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Ärger über den aufdringlichen Schnösel wieder verrauchte.
»Einen noch ...«, murmelte Sorokin schließlich mit brüchiger Stimme, um anschließend zum wiederholten Male an diesem Abend die zweite Schublade seines Schreibtisches zu öffnen, in der sich nur eine halbvolle Flasche Wodka und ein Glas befanden. Mit leicht zitternden Händen schenkte er sich ein, prostete seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu und kippte die klare Flüssigkeit in einem Zug.
Nach einem kurzen Hustenanfall wandte sich der alte Mann erneut dem Manuskript zu, über dem er nun schon seit mehreren Stunden saß. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand über den Bart und konnte seine Augen nicht von dem lateinischen Text nehmen, der aus der Feder eines Franziskanermönches von vor fast vierhundert Jahren stammte.
Eine halbe Stunde später gab er es auf, die einzelnen Seiten sortieren zu wollen und zog sich mit einem frustrierten Schnauben die Schutzhandschuhe aus, die er nun schon den halben Tag trug. Beide landeten auf seiner Schreibtischplatte, direkt neben der ihn immer noch anlächelnden Flasche.
»Morgen ist auch noch ein Tag!«, brummte er, warf den Pergamentstapeln einen verdrießlichen Blick zu und erhob sich. Sein Weg führte ihn zu der Garderobe seines Büros, doch auf halbem Weg ließ ihn das erneute Schellen des Telefons innehalten.
»Wenn das jetzt wieder du bist, ...«, knurrte der Professor, während er schon zum Schreibtisch zurück hastete. »Was?«, fauchte er. Und tatsächlich ertönte ein weiteres Mal die Stimme des Unbekannten. »Ich schätze eine gute Unterhaltung vor allem dann, wenn sie zivilisiert geführt wird. Leider enttäuschen Sie in dieser Hinsicht!« Eine kurze Pause folgte, in der Sorokin aus dem Hörer nur das Prasseln des Regens vernahm. »Sehen Sie aus dem Fenster! Ich komme jetzt zu Ihnen, danach setzen wir dieses Gespräch in einem gebührenden Rahmen fort!«
Dieses Mal wurde der Anruf von der Gegenseite unterbrochen.
Der Historiker konnte nicht anders: Er eilte zum Fenster und versuchte durch die Wasserschlieren etwas zu erkennen, die immer noch an der Scheibe herunterliefen. Unten trat eben ein Mann aus der Dunkelheit in den Schein der Straßenlampe und verharrte dort einen Moment lang, um zu Sorokin hochzusehen. In jähem Erkennen weiteten sich die Augen des Professors vor Schreck.
Hastig wandte er sich ab, um zu dem Ölgemälde Lenins zu eilen, das den Wandbereich hinter seinem Schreibtisch zierte. Mit fliegenden Fingern zog er es beiseite, um gleich darauf den kleinen Tresor zu entriegeln, der sich dahinter versteckte.
Sorokin griff sich hektisch den keltischen Antennendolch, der darin lag. Unter normalen Umständen hätte er nicht gewagt, das liebevoll restaurierte Stück mit bloßen Händen zu berühren, doch gerade gehörte bewusstes Denken nicht mehr zu seinen Stärken.
Dergestalt bewaffnet nahm er in der Mitte des Raumes Aufstellung, hob den Dolch und flüsterte Worte, die ihm schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr über die Lippen gekommen waren. Dennoch verspürte er alsbald das altbekannte und sehr beruhigende Prickeln, als der simple Schutzzauber seine Wirkung zu entfalten begann.
Beständig wiederholte er die Formel, bis das Telefon auf dem Schreibtisch ein weiteres Mal klingelte … und nicht mehr damit aufhörte. Das schrille Läuten des uralten Apparates begann schon bald an den zerrütteten Nerven Sorokins zu feilen, bis er entnervt in die Richtung des Gerätes sah.
Mit einem Knall wurde die Bürotür aufgetreten und verfehlte den Professor nur knapp. Völlig aus der Bahn geworfen, versuchte er sich wieder auf seinen Spruch zu konzentrieren, doch war der Mann, der nun in der Tür stand, schneller.
Bevor der Professor auch nur den Mund aufbekam, rauschte das Brecheisen in der Hand des Fremden auf das Handgelenk Sorokins herab und zertrümmerte es. Der schmerzgepeinigte Schrei des Mannes hallte durch das Büro und endete jäh, als der Fremde ihm das Werkzeug in die Magengrube drosch.
Wie ein Klappmesser knickte der Historiker zusammen und sank japsend auf die Knie, wobei er das verletzte Handgelenk gegen seine Brust presste. »Was wollen Sie?«, keuchte er mühsam.
»Das wissen Sie genau und in ihrem ureigensten Interesse sollten Sie mich nicht mehr zu lange warten lassen!«, schnarrte der Fremde und wog das Brecheisen in der Hand. Sorokin Blick huschte zu dem in einiger Entfernung liegenden Dolch, aber er würde es nie bis dorthin schaffen.
Sein Besucher folgte ihm mit den Augen, um mit einem Lächeln zu der Waffe zu schlendern und sie aufzuheben. Versonnen betrachtete er den Fokus. »Ein wunderschönes Stück!«, stellte er fest. »Ein keltisches Original, oder?«
Sorokin schwieg, also wandte sich der Mann dem Historiker erneut zu, wobei er die Faust nun um den Griff des kurzen Ritualdolches ballte. »Eine Antwort, dann sind Sie mich los! Und mit Madrid brauchen Sie gar nicht wieder anfangen! Dort war ich schon!« Ruhig sah er den zusammengekrümmten Mann an.
»Deutschland! Er ist nach Deutschland gegangen!«, presste dieser nach einigen schmerzerfüllten Atemzügen heraus. »Regensburg. Aber mehr weiß ich nicht! Und jetzt verschwinden Sie und fahren zur Hölle!«
Der Mann hob einen Mundwinkel, als er gemächlich auf Sorokin zuging und das Brecheisen hob.
»Da komme ich her, mein Lieber!«
1. Kapitel
Alex konnte nicht genau sagen, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Kandidaten hierfür existierten reichlich, wie zum Beispiel die allmorgendliche Lärmcollage aus mehr als einem Dutzend Kirchtürme der Regensburger Altstadt. Dann gab es da noch den lärmenden Staubsauger aus der Nachbarwohnung oder der auf Hirnschmelze aufgedrehte Hip-Hop aus dem Nebenhaus.
Eine Weile blieb der ehemalige Student noch liegen und starrte schlaftrunken in Richtung Tisch, wo ein halbvolles Glas Cola vom Vortag stand. Darin konnte man herrlich die Vibrationswellen beobachten, die mit jedem der Bassschläge des aktuellen Songs einhergingen.
Bevor sein auf Sparflamme arbeitender Verstand aber die ersten Gegenmaßnahmen formulieren konnte, übernahmen andere Hirnzentren das Sagen. Automatenhaft stemmte er sich aus dem Bett hoch und streckte sich zunächst einmal ausgiebig, um dann aus dem Bett zu steigen. Als er ein vergilbtes Foto an der Wand erblickte, verdüsterte sich die Miene des jungen Mannes schlagartig. Der Anblick seiner Ex, die ihm auf dem Bild frech grinsend die Zunge herausstreckte, während sie auf einer Kaimauer entlang der Donau balancierte, wirkte sich wenig Laune fördernd auf ihn aus.
Also krabbelte er nochmal über das Doppelbett, in dem nur noch eine von ehemals zwei Matratzen existierte, um das Foto abzureißen. Dabei machte sich Alex nicht die Mühe, auch den zugehörigen Reißnagel aus der Wand zu entfernen. Anschließend warf er es kurzerhand in einen Mülleimer und schlurfte in den Gang hinaus.
Zu seiner Freude fand er die Badezimmertür nur angelehnt vor. Tage, an denen man in einer vier Personen WG auf Anhieb das Bad unbesetzt erwischte, qualifizierten sich normalerweise für einen Kalendereintrag. Lediglich Miss Daisy, die WG-Katze, protestierte energisch maunzend gegen die Störung ihrer Morgentoilette.
Davon unberührt widmete sich Alex zunächst der Zahnhygiene und ging gleichzeitig der Frage nach, ob das heutige Tagesgeschehen Dusche und Rasur rechtfertigte. Sein Blick fiel dabei auf den Spruch, den ein ehemaliger Mitbewohner über dem Spiegel mit einem dicken Filzstift verewigt hatte: Grunge ist in!
Ganz in diesem Sinne warf er sich nur ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht und schlenderte in Richtung Küche. Neben der Zubereitung von Mahlzeiten stellte jener Ort auch das soziale Zentrum der Wohnung dar. Und noch viel wichtiger: Dort stand die Kaffeemaschine!
Galant überstieg er zunächst zwei volle Müllbeutel, um sich im Anschluss in der verwaisten Küche umzuschauen, die sich momentan vor allem durch einen eklatanten Mangel von genussfertigem Kaffee auszeichnete. Ein Missstand, den er sofort abzustellen gedachte.
Bald schon saß er auf einem der wackligen Küchenstühle, woraufhin sich Miss Daisy taktisch günstig auf seinem Schoß niederließ. Nach Katzenlogik brauchte er wohl nur eine Hand zum Kaffeetrinken, die andere konnte gewinnbringend für Streichel-einheiten eingesetzt werden. Im Tausch dafür gab es auch reichlich Katzenhaare. So ließ sich Alex eine Weile von der Morgensonne den Rücken wärmen, bis schließlich die Tür aufging und eine seiner Mitbewohnerinnen hereinkam. Nur gekleidet in T-Shirt und Shorts stakste Jessy ebenfalls über die beiden Müllbeutel hinweg und wäre dabei fast auf die empört flüchtende Katze getreten, die ihr eigentlich zur Begrüßung entgegengekommen war.
Alex wurde kurz mit einem verschlafenen Winken bedacht, ehe sich Jessy über die Kaffeekanne hermachte. Der Geruch frisch aufgebrühten Kaffees fungierte von je her als universelles Weckmittel in dieser WG, schon deswegen hatte er mehr als genug davon aufgesetzt. Und ganz nebenbei konnte er so Jessy eine geraume Weile ungeniert anstarren. Selbst jetzt, verquollen vom Schlaf und ohne extensiven Einsatz einer Schminkflinte, sah sie einfach zum Anbeißen aus. Bis zur Hüfte reichende, dunkelrote Haare standen im Kontrast zu einer hellen Haut und einem wilden Rudel Sommersprossen um die Nasengegend herum. Alex konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob ihre grünen Augen nicht auf Kontaktlinsen beruhten, aber so oder so passten sie ganz ausgezeichnet zum Rest des Äußeren seiner Mitbewohnerin. Hinzu kam, dass man Jessys Figur am besten mit „Wofür Männer töten!“ umschreiben konnte.
Schnell schob er sich ankündigende Gedanken unzüchtiger Natur beiseite. Jessy stellte eine absolute Tabuzone für ihn dar und das gleich aus mehreren Gründen: Zum einem lag das schmerzliche Ende der letzten Beziehung von Alex noch nicht allzu lange zurück und der Stachel der Zurückweisung steckte immer noch tief.
Und zum anderen gehörte die, sich mit einer Unzahl von Jobs über Wasser haltende, Lebenskünstlerin zu jenem kleinen und erlesenen Kreis von Menschen, die Alex uneingeschränkt als Freund bezeichnen konnte. Nicht nur verdankte er ihr seinen Platz in dieser WG, nein, im Laufe der Zeit wären einige unschöne Situationen ohne Jessys tatkräftige Hilfe auch weitaus übler für Alex ausgegangen. Erst mit Beginn seiner letzten Beziehung hatte sie sich etwas mehr zurückgezogen, wohl auch, weil sie sich ebenfalls seit einiger Zeit in festen Händen befand. Für Alex war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch ihr Zimmer freiwerden würde.
Bald machte sich Jessy mit einer Tasse und etwas Essbarem aus dem Kühlschrank auf den Rückweg in ihr Zimmer, womit Alex allein in der Küche zurückblieb. Mangels anderer Beschäftigung starrte er eine Weile in die teerschwarze Finsternis seiner Tasse und lauschte auf die Geräusche der Stadt.
Außerhalb der Wohnung schien Regensburg langsam zum Leben zu erwachen. Das Morgenläuten war schon vor einer Weile vom mittlerweile obligatorischen Lärm der Touristengruppen am Domplatz ersetzt worden. Alex konnte die, von den Touristikführern erzählten, Geschichten inzwischen im Schlaf aufsagen. Dennoch blieb er sitzen und lauschte zum wiederholten Male der Mär des mittelalterlichen Wettstreits zwischen Dombaumeister und Brückenbaumeister. Gerade als sich die Erzählung unten dem Ende zuneigte, wurde das Schloss der Wohnungstür betätigt und kurze Zeit später öffnete sich die Küchentür. Automatisch griff Alex nach einer bestimmten Steingut-Tasse im Regal neben sich, schenkte ein, um sie sie alsbald Sven, einem weiteren seiner Mitbewohner, in die Hand zu drücken.
Der Leipziger bedankte sich mit einem einsilbigen Grunzen und machte es sich Alex gegenüber am Küchentisch bequem. Einträchtiges Schweigen breitete sich in der Küche aus, nur unterbrochen vom Straßenlärm und dem regelmäßigen Ticktack der Uhr. Den Beginn dieses gemeinsamen Rituals, das sich so nahezu jeden Tag wiederholte, konnte Alex noch in die eigene Studienzeit zurückverfolgen, während der er ebenfalls zu unmenschlichen Zeiten sein Zubrot verdient hatte.
Etwa zehn Minuten später zog der Kaffeeduft auch den letzten Bewohner der WG an, was das Ende der einträchtigen Ruhe bedeutete. Mit Miss Daisy als Vorhut kam Jochen in die Küche geschlurft.
Der Philosophiestudent sah aus, als habe er die Nacht wieder einmal über irgendwelchen Büchern verbracht. Einsilbig brummelte er einen Gruß und leerte die Kaffeekanne in eine mitgebrachte Tasse. Wenigstens besaß er den Anstand, anschließend eine Neue aufzusetzen. Wie auch Jessy gehörte er zum inneren Kreis der Gemeinschaft und schien sein Studentenleben auf absehbare Zeit noch nicht beenden zu wollen. Alex konnte den mitunter etwas altklug klingenden Mittdreißiger, der unangefochten den Posten des WG-Ältesten belegte, verdammt gut leiden.
Während der neue Kaffee durch die Maschine lief und Jochen den Kühlschrank plünderte, erhob sich Sven. Er gähnte ungeniert mit weit offenem Mund, bevor er sich anschickte, die Küche zu verlassen. Prompt stolperte er über die beiden Müllsäcke nahe der Tür, was Alex und Jochen schadenfroh grinsen ließ, denn einer ungeschriebenen Regel zufolge fiel ihm damit der Mülldienst zu. Murrend schnappte er sich beide Säcke, um sie aus der Wohnung zu schaffen. Jochen gesellte sich derweil an den Tisch zu Alex und steckte seine Nase in ein mitgebrachtes Buch. Aus Erfahrung wusste Alex, dass die Chancen auf eine normale Konversation mit dem angehenden Philosophen ab jetzt gegen null tendierten.
Sven dagegen erwies sich nach seiner Rückkehr von der Müllexkursion als umso mitteilungsfreudiger und ließ Alex in klinisch exakten Details an den Ereignissen der letzten Nachtschicht teilhaben. Entweder entgingen ihm dabei die verzweifelten Blicke, die Alex zur Decke warf oder aber es kümmerte ihn einfach nicht.
Die WG-Katze hatte sich derweil abermals Alex als Opfer auserkoren und machte es sich wieder auf seinem Schoß bequem. Er begann sie erneut zu kraulen, was ihm mit genüsslichem Schnurren gedankt wurde. Trotz Svens Geplapper befand Alex, dass ihm wohl ein recht gemütlicher Tag ins Haus stand. In absehbarer Zeit musste somit die Essens- sowie die Abendplanung angegangen werden. Und wie üblich würde sich Jochen nur mit einem gelegentlichen Brummen beteiligen, während Jessy durch Abwesenheit glänzte.
Unvermittelt jedoch hob Jochen den Kopf, starrte ihn an und verengte die Augen. Alex entging die Haltungsänderung des angehenden Philosophen über den Rand seiner Tasse hinweg nicht, also setzte er sie ab und hob fragend die Brauen. »Sag mal, Alex? Hattest du nicht heute das Bewerbungsgespräch bei dieser Webdesign Firma?« Jochens Frage unterbrach den bislang nicht enden wollenden Erzählstrom von Sven, der ihn daraufhin beleidigt anstarrte, aber ignoriert wurde.
Ein eisiger Klumpen ballte sich in der Magengegend von Alex zusammen. Gleichzeitig verlangsamte sich die Welt irgendwie in Zeitlupe, bevor sein Verstand einen panischen Kickstart hinlegte. Er brachte nicht mehr als »Ach du Scheiße!« heraus und fuhr in die Höhe, sehr zum Unwillen von Miss Daisy, die mit ausgefahrenen Krallen ihre Position zu behaupten versuchte. Seine Oberschenkel brannten demzufolge wie Feuer, als er aus der Küche hetzte, die Kaffeetasse auf dem erstbesten Platz im Flur abstellte und Richtung Bad sprintete.
Hastig riss er den Wäschetrockner auf. Nach einigem Wühlen fand er das für das Gespräch vorgesehene Hemd, wobei nun energisches Ausschütteln zum Interim-Ersatz für fehlendes Bügeln wurde.
Mit einem Arm schon im Hemd hetzte er weiter in sein Zimmer, um dort aus einem Klamottenhaufen die zugehörige Jeans zu ziehen. Die beiden Ketchupflecken auf dem linken Hosenbein bemerkte er erst jetzt, aber für eine Reinigung blieb keine Zeit mehr. Also schlüpfte er hinein, stakste zum Schreibtisch und begann die dort aufgestapelten Unterlagen nach der glücklicherweise bereits vorbereiteten Bewerbungsmappe zu durchwühlen.
Ein hastiger Blick auf die Uhr besagte, dass ihm noch etwa zwanzig Minuten bis zu seinem Gesprächstermin blieben. Wenn sich nicht alle Schicksalsgötter gegen ihn verschworen hatten, bestand noch eine kleine Chance, rechtzeitig anzukommen.
Schon stürmte er durch den Flur hin zur Wohnungstür. Doch just in diesem Moment kam die Wohnungskatze im vollen Galopp aus der Küche gesprintet. Alex gelang es gerade noch auszuweichen, was ihn aber auf direkten Kollisionskurs mit dem kleinen Schränkchen im Flur brachte. Abermals wechselte seine Wahrnehmung in Zeitlupe. Detailliert, aber hilflos, musste er mitansehen, wie die von ihm dort zuvor abgestellte Kaffeetasse durch den Stoß ins Kippen geriet und ihren asphaltschwarzen Inhalt über seine Hose verteilte.
Fassungslos starrte Alex auf den sich ausbreitenden Fleck, um dann auf dem Fuße umzudrehen und zurück in sein Zimmer zu hetzen. Hektisches Suchen, begleitet von einigen maßlosen Flüchen, förderte in einem anderen Berg mit Kleidung eine Hose zutage, die gerade so als Ersatz dienen konnte.
Wieder zurück im Flur bückte er sich, hob die, nun ebenfalls mit Kaffeeflecken bedeckte Mappe auf und hetzte zur Wohnungstür hinaus. Im Treppenhaus nahm er gleich zwei Stufen auf einmal, warf unten die Haustür auf und sprintete los. Ein paar Schritte weiter hielt er aber erschrocken vor dem spiegelnden Glas eines Schaufensters inne: Seine Frisur konnte selbst mit viel Wohlwollen nur als chaotisch bezeichnet werden. Ein paar Mal fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass er mit einer Robert-Pattinson-Gedächtnisfrisur bei dem Termin aufkreuzen würde.
Fluchend begann Alex in Richtung Bushaltestelle zu rennen.
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