"Ein jeder Mensch, ob Sklave oder Grande, wird sich irgendwann gegen das Leid auflehnen, das ihm zugefügt wird [...] und dann wird der Tod hier eine reiche Ernte halten!"
Geldnot und nicht etwa der Glaube bringen den Hidalgo Alejandro Quesada im Jahre des Herrn 1530 dazu, eine Schar Getreuer um sich zu sammeln und in die Neue Welt zu segeln. Unter dem Kommando des Generalcapitan Francesco Pizarro will er gegen die Inka ziehen.
Nach wochenlanger Seereise durchkreuzt indes ein Sturm die Pläne des Adligen. Schwer beschädigt verliert Alejandros Schiff den Anschluss an den Konvoi und muss den Kurs zur rettenden Küste einschlagen.
Noch ahnt er nicht, dass er damit am Anfang eines Abenteuers steht, in dem die heidnischen Indios Südamerikas bei weitem nicht sein einziges Problem sein werden ...
"Atahash", der Historienfantasy Roman von Andreas Michels
508 Seiten
Neu aufgelegt im Tribus Verlag
ISBN-13 : 978-3754940648
ISBN-10 : 3754940643
1.Kapitel: Sangre de Dios, 1530 a.D.
Die türkise Farbe der Karibischen See hatte sich in eisiges Grau verwandelt, welches in unablässigen Brechern gegen den Bug der Sangre de Dios donnerte. Fünf Tage stampfte die alte Karacke nun schon durch die sturmgepeitschte See, fuhr hinab in tiefe Wellentäler, nur um alsbald aus ihnen wieder emporgerissen zu werden.
An Deck trotzte, abgesehen von zwei Rudergängern und einigen Matrosen, die Wacht über die Sturmsegel hielten, nur ein einzelner Mann dem Wüten des Orkans. Von den verzweifelt arbeitenden Seeleuten ignoriert, stand er im Bug des Schiffes, krallte sich mit beiden Händen an Tauen fest und starrte auf die rasende See hinaus. Lange hatte die Gischt ihm die vornehme Blässe aus dem Gesicht gepeitscht und ihn bis auf die Knochen durchnässt. Doch ungeachtet der Kälte, die seinen Körper schüttelte, harrte der Hidalgo aus.
Ununterbrochen suchten die tränenden Augen Don Alejandro Quesadas die Kimm ab, ohne jedoch zwischen den Wellenbergen eines der anderen Schiffe des auseinandergedrifteten Konvois ausmachen zu können, zu dem die Sangre de Dios bis vor kurzem gehört hatte. Seit drei Sturmtagen fehlte von den Karacken der kleinen Flotte unter dem Kommando von Generalcapitán Francisco Pizarro jede Spur.
Ständig gewann der Wind an Stärke und hatte gestern unter den Seeleuten ein erstes Opfer gefordert. Mit Grauen dachte Alejandro an den gellenden Schrei des Mannes bei dessen Sturz aus den Wanten hinab in die tobende See. Allmählich begann er sich die Frage zu stellen, wann der Rest der Besatzung, ihn eingeschlossen, dem unglücklichen Matrosen nach-folgen würde. Ein lautes Rufen riss den Hidalgo schließlich aus seinen düsteren Gedanken und ließ ihn herumfahren. Vor ihm stand der Schiffsjunge, ein Elfjähriger mit einer Menge maurischen Blutes in den Adern. Der Knabe musste schreien, um sich mit ihm verständigen zu können. »Don Alejandro, der Capitán wünscht, Euch zu sprechen. Es ist dringend!« Die Antwort des Hidalgos bestand aus einem knappen Nicken und im Anschluss aus einem harschen Winken, mit dem er den Jungen davon scheuchte. Schweigend verfolgte er den lebensgefährlichen Rückweg des Knaben zur nächsten Luke, den er nur mithilfe der angebrachten Strecktaue bewältigen konnte.
Erst als er in der relativen Sicherheit des Unterdecks verschwand, wandte sich Alejandro wieder der wütenden See zu, um erneut in finsteren Gedanken zu versinken und mit seinem Schicksal zu hadern.
Es vergingen einige Minuten, bis er sich schließlich abwandte und wie der Schiffsjunge zuvor in die Strecktaue griff, um sich mühevoll nach Achtern in Richtung vorzuarbeiten. Als er schließlich das Heck der Karacke erreichte, zitterte er am ganzen Leib vor Anstrengung.
Er fand Capitán Mendoza in seiner Kajüte vor, wo er sich soeben im flackernden Licht einer Talglaterne über eine Seekarte beugte. Wie auch Alejandro selbst, war der Kommandant des Schiffs bis auf die Haut durchnässt, was ihm aber nicht viel auszumachen schien. Der Raum mutete kalt und klamm an wie in einer nassen Höhle. Unwillkürlich schauderte der Hidalgo und musste ob des dichten Qualms, den die Talglampe als einzige Lichtquelle im Raum abgab, mehrfach husten.
Hierauf hob sich der Kopf des Seemanns vor ihm. Er deutete eine knappe Verbeugung an, nachdem er erkannt hatte, wer sich nun mit ihm in der Kajüte befand. »Don Alejandro, ich will es kurz machen! Auf dem gegenwärtigen Kurs ist es mir unmöglich, weiterhin für das Schiff zu garantieren. Der Sturm gewinnt weiter an Stärke und wir nehmen stündlich mehr Wasser über. Gott allein weiß, wie lange die Masten noch halten!« Alejandro konnte den Mann vor sich nur schweigend ansehen, während er versuchte, die Ruhe zu bewahren. Für einen Moment fürchtete er absurderweise, dass der Capitán das Zittern seines frierenden Leibs als Furcht auslegte. Schon, weil er damit gar nicht mal so falsch lag.
Da eine Antwort ausblieb, sprach Mendoza ungerührt weiter. »Ich sehe nur einen Weg, um das Schiff zu retten: Eine Kursänderung in Richtung Süden wird uns Erleichterung verschaffen! Und so Gott will, werden wir die Küste erreichen, bevor uns die Masten brechen.« Die Hoffnung sprach deutlich aus den müden Augen des Capitáns, doch klang er gleichzeitig, als ob er mit einem begriffsstutzigen Kind redete.
Immer noch schweigend atmete Alejandro tief durch. Eine Kursänderung bedeutete das definitive Ende seiner ehrgeizigen Pläne! Pizarro hatte vor ihrer Abreise in Cádiz klargemacht, dass er ohne Rast nach Panama und dann von dort aus auf dem Landweg gen Südwesten weiterreisen würde. Eine Weile drang nur das Heulen des Sturms durch die Kajüte, bevor Alejandro den Kopf schüttelte und eine Antwort förmlich herauspressen musste. »Ausgeschlossen, Capitán!« Ohne abzuwarten, wandte er sich hastig ab. Im Gehen warf er die Kajütentür hinter sich zu.
Seine Flucht führte ihn in Richtung Bug, denn den Komfort einer eigenen Kabine konnte noch nicht einmal Alejandro auf dem rein auf Frachttransport ausgelegtem Schiff in Anspruch nehmen. Mit einem dicken Kloß im Hals stieg er die schmale Steigleiter in den Frachtraum hinab, wo sich die Konquistadoren mehr schlecht als recht mit Hängematten eingerichtet hatten. Im Schein zweier flackernder Laternen wirkten die Männer wie eine zusammengepferchte Viehherde, zwischen der nicht festgezurrte Ausrüstung bei jedem Rollen des Schiffes herumkugelte. Unwillkürlich rümpfte Alejandro die Nase, als ihm die schon altbekannte Duftmischung aus ungewaschenen Leibern, Qualm, Viehgestank und Erbrochenem entgegenkam.
Wohin er auch sah, erblickte er bleiche Gesichter mit tief in den Höhlen liegenden Augen, die ihn mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung anstarrten. Sicherlich hofften seine Gefolgsleute, etwas Aufmunterndes von ihm zu hören, doch wollte ihm nichts in den Sinn kommen. Mit zusammengebissenen Zähnen schwankte der Adlige durch den Laderaum und wurde auf halbem Weg von einem von oben kommendem Schwall Wasser erneut durchnässt, der durch ein undichtes Oberlicht hereinkam. Mit äußerlich zur Schau gestelltem Gleichmut ertrug er die eisige Kälte, bis er endlich den Bug erreichte. Dort hatten sich Alejandro und die beiden anderen Hidalgos auf diesem Schiff einen Bereich durch eine Plane abgeteilt. Kaum fiel sie hinter ihm herab an ihren Platz, da sank der Spanier mit einem erleichterten Seufzen auf seine Hängematte, schlang die Arme um den Oberkörper und schloss die Augen.
Ihm war immer klar gewesen, dass er als Viertgeborener keine großartige Erbschaft erwarten konnte, sah man vom Titel eines Hidalgo de Sangre, dem damit verbundenen guten Leumund und etlichen Dublonen ab. Statt aber den durchaus wohlmeinenden Ratschlägen des Vaters zu folgen, hatte er sich lieber dem Wein und dem Weibsvolk gewidmet.
Ein Weg in die Gosse schien ihm nach einigen Monaten der gedankenlosen Verschwendung vorgezeichnet zu sein, wäre er nicht dem Werber des Generalcapitáns in die Arme gelaufen, der wagemutige Männer von Stande wie ihn suchte. Damals klang es einfach zu verlockend. Eine Expedition unter der Führung von Francisco Pizarro höchstpersönlich in einen bis dato unbekannten Teil der Neuen Welt, bei der es Gold und Ruhm für jeden Teilnehmer in Massen geben sollte. Alejandro investierte, ohne lange zu überlegen, sein verbliebenes Vermögen und verschuldete sich darüber hinaus zu unverfrorenen Zinsen bis über beide Ohren. Die mit diesem Geld aufgestellte Einheit hätte ihm einen ordentlichen Anteil am erzielten Gewinn der Unternehmung gebracht. Doch nun schien es, als ob ein verdammter Sturm all seine Träume zerschlug, ohne dass er auch nur die Chance bekam, gegen die Heiden zu ziehen...
Erst mit deutlicher Verzögerung wurde er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der beiden anderen Anwesenden bewusst und öffnete langsam die Augen, um seine Offiziere zu mustern. Philippe entstammte, wie er selbst, der Familie eines Granden. Ciscos Abstammung dagegen wies auch im besten Licht betrachtet wenig Glanzvolles auf. Doch umso glorreicher mussten die Taten des älteren Kämpen während der Reconquista gewesen sein, denn nur so ließ sich eine Erhebung in den Adelsstand erklären. Aber auch in Sachen Erscheinungsbild gab es merkliche Unterschiede. Don Cisco wies die breiten Schultern und harten Hände eines Mannes auf, der mittlerweile jahrzehntelang dem Kriegshandwerk nachging. Bart und Schläfen des Hidalgos zierte bereits das Grau des Alters. Philippe dagegen zeichnete sich durch eine eher zierliche Statur aus und war mit einem ausnehmend hübschen Gesicht gesegnet, dessen helle Haut fast schon an schimmerndes Porzellan erinnerte.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte ihn der Jüngling an. »Wie sieht es aus? Wird es bald besser?« Noch bevor Alejandro den Mund öffnen konnte, kam aus Ciscos Richtung ein verächtliches Schnauben. Dieser lag auf seiner Hängematte ausgestreckt und ließ ein Bein lässig über den Rand hängen. »Unser junger Freund hier hat nichts mehr im Magen, um die Fische zu füttern, musst du wissen!«
Philippe setzte sichtlich erbost zu einer Antwort an, doch schaffte Alejandro es, ihn mit einer harsch erhobenen Hand zur Räson zu bringen.
Schon seit dem Ablegen gab es zwischen den beiden Hidalgos Querelen, die einen beständigen Quell von Ärger für ihn darstellten. Für gewöhnlich ließ er sie gewähren, nun aber widerte ihn das Gehabe der beiden nur an. »Ruhe, verdammt noch mal!«, rief er und versuchte gleichzeitig, seine Gedanken trotz der Kälte zu ordnen. Ehe er jedoch versöhnliche Worte fand, zog sich Philippe unvermittelt auf die Beine und stolperte würgend aus dem Verschlag.
Perplex sah Alejandro ihm hinterher, bis Ciscos gebrummter Bass an sein Ohr drang. »Wie schlimm ist es?« Erst nach energischem Räuspern gelang es dem Hidalgo, eine Antwort zustande zu bringen, so schnürte es ihm den Hals zu. »Der Sturm nimmt zu, Mendoza will gen Süden abdrehen«
Das wettergegerbte Gesicht seines Gegenübers verdüsterte sich, bevor er nickte. »Ist wahrscheinlich die beste Lösung. Ich mag nicht viel von Seefahrt verstehen, aber falls wir entmastet werden, hilft uns nur noch beten.« Alejandro wollte schon auffahren, jedoch kam ihm Cisco mit abwehrend erhobener Hand zuvor. »Ich weiß, was das bedeutet! Doch selbst wenn der verehrte Padre Miguel anderer Meinung ist, können die Indios noch etwas auf ihre Bekehrung warten. Dafür müssen wir es nämlich erst einmal lebend in die Neue Welt schaffen!« Kurz hielt Alejandro dem Blick seines Gegenübers stand, bevor er den Kopf senkte und sich mit zitternder Hand durchs nasse Haar fuhr. »Damit verlieren wir gemäß den Statuten der Capitulación jeden Anspruch auf einen Anteil an Pizarros Expedition!«
Abermals schnaubte der alte Hidalgo. »Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn wir diesen Hexentanz überlebt haben!« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und vergiss nicht: Pizarro ist in genau denselben Sturm geraten! Möglicherweise finden wir ihn und den Rest der Expedition an der Küste!«
Wortlos sah Alejandro Cisco an, derweil um sie herum das Schiff ächzte und knarrte, als wollte es jeden Moment auseinanderbrechen. Täuschte er sich oder nahm der Sturm auch jetzt noch weiter an Kraft zu? Vernunft, Angst und Stolz trugen in ihm einen wilden Kampf aus. Konnte man ihm eine Meinungsänderung so kurz nach seiner Absage nicht als ein Zeichen von Schwäche auslegen? Und was würden die Männer sagen? Nun lag es an Alejandro, zu schnauben. Wahrscheinlich recht wenig, wenn er bedachte, wie dieser ängstliche Hühnerhaufen sich im Laderaum zusammen-kauerte. Allesamt Hafenarbeiter, Bauern und Tagelöhner, die für das Versprechen von Reichtümern ihr Kreuz gemacht hatten.
Schließlich fällte er eine Entscheidung und erwog noch auf Philippes Rückkehr zu warten, um sie mit ihm zu besprechen. Aber zum einen schien dieser sowieso ganz unstandesgemäß die Hosen voll zu haben und zum anderen oblag Alejandro als Haupt-zahlendem letztlich die Befehlsgewalt. Also setzte er sich auf und rief Paco. Sein Diener erschien nach einer für ihn ungewöhnlich langen Wartezeit, um mit sichtlich blassem Gesicht Anweisungen zu erwarten. Alejandro reckte forsch das Kinn vor und überging wissentlich den erbärmlichen Zustand des jungen Lakaien. »Paco, werde beim Capitán vorstellig und richte ihm aus, dass er den Kurs ändern kann, wenn er dies zur Rettung des Schiffes für unbedingt notwendig erachtet!« Die Antwort des Dieners bestand aus einem eiligen Kratzfuß, gefolgt von einem hastigen Abgang.
Reglos sah Alejandro ihm nach, bevor Kälte und Übermüdung ihren Tribut zu fordern begannen und der Hidalgo hintenüber auf sein Lager sank, um in einen unruhigen, von Albträumen geschüttelten Schlaf zu fallen.
Drei Tage waren seit der Kursänderung der Sangre de Dios vergangen. Zwar verschaffte der neue Südkurs dem Schiff nahezu augenblicklich Erleichterung, dennoch musste die Besatzung der Karacke bis an den Rand der totalen Erschöpfung schuften, um das Schlimmste zu verhindern. Alejandro konnte nicht sagen, ob es an Mendozas meisterlicher Seemannschaft oder schlicht an einer Intervention Gottes lag, doch sie überstanden das Unwetter ohne weitere Verluste an Menschenleben. Auch jetzt noch standen unheilverkündende Wolken am Himmel, aber der Sturm verlor zusehends an Kraft.
Umso deutlicher offenbarte sich nun das Chaos, welches am Oberdeck herrschte. Teile der losgerissenen Takelage hingen in Fetzen bis zum Deck hinab, wo Trümmer nahezu jeden freien Fleck bedeckten. Die übermüdeten Matrosen begannen eben mit den Aufräumarbeiten, doch einige der Schäden konnten auf See nicht behoben werden, wie Alejandro vermutete.
Er stand wieder an seinem Beobachtungsposten im Bug und hielt erneut Ausschau nach den anderen Schiffen des Konvois. Auch wenn der Ausguck im Krähennest hoch über ihm sicherlich weitaus früher etwas entdecken würde, so beruhigte es ihn ungemein auf die aufgewühlte See hinauszublicken. Im Stillen dankte der Adlige dem Herrgott für die Rettung, während er gleichzeitig bereits an die Zukunft dachte. Die Entscheidung den Kurs zu ändern mochte ihnen allen das Leben gerettet haben, aber nun stand der Ausgang dieser Expedition auf Messers Schneide, noch bevor sie richtig begonnen hatte.
Seufzend wandte sich Alejandro von der See ab und schaute sich um. Überall arbeiteten Matrosen und erzeugten dabei einen Heidenlärm.
Auf dem Achterkastell konnte er den Navigator des Schiffs ausmachen, der dort mit sauertöpfischer Miene mit seinem Jakobsstab herumhantierte. Offensichtlich gab es ob der Wolkendecke nichts für ihn zum Anpeilen, sodass ihre aktuelle Position immer noch ein Mysterium blieb, was ebenfalls nur wenig zu einer verbesserten Laune Alejandros beitrug.
Verbittert versuchte er, Trost im endlosen Rauschen der Wellen zu finden, doch wurden seine düsteren Gedankengänge alsbald von Señor Luengo unterbrochen, der sich von der Seite an ihn heranpirschte. Nur mit Mühe konnte Alejandro eine gleichgültige Miene beibehalten, denn der Beamte widerte ihn schon seit ihrem ersten Zusammentreffen in Cádiz zutiefst an. Und wahrlich lag es nicht nur daran, dass Luengo in den Diensten der Casa de Contratación stand. Seine Aufgabe bestand als königlicher Escribano darin, jede gemachte Beute der Expedition akribisch aufzuzeichnen, um später der spanischen Krone ihren fünften Teil sicherzustellen.
Doch selbst wenn man davon absah, mochte Alejandro den Beamten nicht einmal mit einer Schmiedezange anfassen! Der Mann erinnerte ihn an eine Ratte, so wie seine kleinen Äuglein hin und her huschten, scheinbar stets auf der Suche nach irgendetwas Interessantem. Die hohe, quietschende Stimme Luengos trug ein Übriges dazu bei, diesen Eindruck des Hidalgos noch zu verstärken.
Alejandro stellte mit innerer Genugtuung fest, dass Luengo einen Verband um die linke Hand trug. Dort zeigte sich ein etwa münzgroßer Fleck aus getrocknetem Blut.
»Señor, ich benötige einen Augenblick Eurer geschätzten Zeit«, schnarrte ihn der Schreiber grußlos an. Statt zu antworten, betrachtete Alejandro zunächst eine Weile die kabbelige See, bevor er ihn ansah. »Ihr hattet Pech, wie ich sehe?«
Der deutlich kleinere Mann presste die dünnen Lippen zusammen und kratzte unwirsch an dem Verband herum. »Ja, ich habe den Halt verloren und wurde durch den Frachtraum geschleudert. Der Metzger, denn sie hier einen Schiffsarzt nennen, hat sich die Wunde angesehen. Ist bald wieder in Ordnung!« Schon als der Schreiber zu sprechen begann, wandte Alejandro sich erneut der See zu. Ein weiteres Mal suchte er die Kimm nach Segeln ab und nickte dabei geistesabwesend. Luengo würde ihm eh nicht von der Pelle rücken, bevor er seine Antworten bekam. »Freut mich zu hören!« Tief atmete er durch. »Was kann ich für Euch tun?«
Der quengelnde Tonfall des Beamten machte klar, wie wenig es ihm behagte, sich mit dem Rücken Alejandros unterhalten zu müssen. Nun räusperte er sich vernehmlich und musste schließlich sogar die Stimme heben, um gegen eine neuerliche Böe anzurufen, wie der Hidalgo mit diebischer Freude feststellte. »Nun, mich verlangt es zu erfahren, wie es von nun an weitergehen wird. Wir haben den Anschluss an den Konvoi des Generalcapitáns verloren. Wie Ihr wisst, ist er der Vertragshalter mit der Casa de Contratación und somit Oberhaupt der Expedition. Eine Unternehmung auf eigene Faust ist keinesfalls vorgesehen!«
Glücklicherweise konnte er Alejandros Gesicht nicht sehen. Dessen Kiefermuskeln traten deutlich hervor, genau wie auch alle Farbe aus der Hand wich, die sich immer fester um das Halteseil zu seiner Rechten legte. Was bildete sich dieser Kerl ein? Allein schon der Tonfall, in dem er es wagte, mit ihm zu reden, stellte eine unwahrscheinliche Beleidigung dar. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte ein Schreiberling ein solches Verhalten rasch bereut.
Hier stand er als Vertreter der Krone allerdings am längeren Hebel. Also atmete Alejandro innerlich durch und antwortete, ohne dabei den Beamten anzusehen. »Ihr kommt wie immer schnell zum Punkt! Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich weiß es noch nicht! Wie Euch bereits aufgefallen sein sollte, sind wir nur knapp dem Sturm entkommen, gepriesen sei der Herr!«
Alejandro bekreuzigte sich mit der freien Hand, bevor er weitersprach. »Wir brauchen Zeit für Reparaturen und wie mir Capitán Mendoza vorhin mitteilte, benötigen wir auch dringend frisches Trinkwasser. Es sind viele Wasserfässer zu Bruch gegangen. Also segeln wir bis auf weiteres gen Südwesten, wo wir in drei bis vier Tagen Land sichten sollten. Wie es danach weitergeht, wird sich zeigen!«
Er konnte den forschenden Blick des Escribanos förmlich im Rücken spüren, als dieser antwortete. »Sehr wohl! Das war auch schon alles, was ich wissen wollte. Mit Eurer gütigen Erlaubnis werde ich mich nun zurückziehen«
Mit einem unwirschen Winken verscheuchte Alejandro den Schreiber, um wenigstens eine Zeitlang wieder seine Ruhe zu haben.
Später am Tag stand ein Gottesdienst für den ertrunkenen Seemann an. Vielleicht gab es bis dahin genauere Informationen über das wahre Ausmaß der Schäden, das sich bisher immer noch nicht abschätzen ließ. Auf Mendozas Bitte hin hatte Alejandro einige Leute den Reparaturtrupps zugeteilt, auch wenn die unerfahrenen Männer nur bedingt eine Hilfe für die Matrosen darstellten. Anpacken konnten sie aber allemal bei den schweren Arbeiten und kamen dabei sogar noch auf andere Gedanken.
Derweil er seine Suche entlang der Kimm wieder aufnahm, lauschte der Adlige mit halbem Ohr dem Radau der Instandsetzungsarbeiten. Ein Trupp klarte gerade fluchend mit Äxten und Taumessern die Takelage auf, während eine andere Arbeitsgruppe bereits ein neues Segel für den in Mitleidenschaft gezogenen Fockmast vorbereitete.
Schwere Schritte kündeten bald eine erneute Störung an. Mit einer knappen Drehung des Kopfes erkannte Alejandro dieses Mal Don Cisco. Der Hidalgo griff wortlos nach einem straff gespannten Tau und zog sich mit einem angestrengten Brummen zu ihm nach oben auf den Vorbau des Bugs.
Fürs Erste sah er ebenfalls schweigend auf die See hinaus und eröffnete dann das Gespräch in beiläufigem Tonfall, während die Augen Ciscos immer noch die Kimm absuchten. »Die Leute sind rastlos! Sie fragen, wie es weitergeht«, raunte ihm sein Untergebener zu. Auch Cisco selbst schien dieses Thema zu beschäftigen, wie Alejandro durch einen prüfenden Seitenblick erkannte. Das wettergegerbte Gesicht des Mannes neben ihm zeigte keine Regung und dennoch konnte man eine gewisse Unruhe aus seiner Mimik herauslesen. Wenig verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie beide einen Großteil ihrer vergleichsweise bescheidenen Mittel in dieses Unternehmen gesteckt hatten. Eine Rückkehr mit leeren Händen in die Heimat käme also einer Katastrophe gleich.
Alejandro rang sich ein Lächeln ab. »Uns bleibt wenig anderes übrig, als auf Gott zu vertrauen. Wir sind hierhergekommen, um sein Wort zu verbreiten. Er wird uns nicht vergessen!« Die Tatsache, dass allein auf diesem Schiff achtzig kampffähige Passagiere reisten, aber nur ein geweihter Priester, mochte Alejandros Aussage ziemlich verwässern. Dennoch nickte Cisco. »Wenigstens gibt es bald etwas Anständiges zu beißen!«
Auf einen fragend gerunzelte Stirn Alejandros hin spuckte sein Offizier in die See. »Eines der Maultiere hat sich ein Bein gebrochen. Wir werden es erlösen müssen...«
Einige Stunden später kam die See vollends zur Ruhe und ein deutlich wahrnehmbarer Bratenduft zog durch das Schiff. Je stärker die Besatzung diesen vernahm, desto weiter stieg ihre Laune. Zwar würde für jedes Besatzungsmitglied letztlich nur ein kleiner Brocken übrigbleiben, aber dennoch freuten sich die Männer wie Kinder auf das Abendmahl. Manch einer mochte deswegen wohl auch der auf dem Oberdeck abgehaltenen Messe nur schwerlich den gebührenden Respekt zollen, denn der von der Seebrise bald verwehte Weihrauchduft konnte kaum den Essensgeruch überdecken, den der Wind herantrug. Da die Kochstelle des Schiffes nicht einmal im Ansatz für so viel Fleisch ausreichte, wurde kurzerhand die kleine Schiffsschmiede ebenfalls mit belegt.
Schließlich war es so weit und die Essensausgabe stand an. Don Alejandro verfolgte das ganze Durcheinander seit der Schlachtung des Maultiers mit einer Mischung aus Resignation und Erheiterung. Auch wenn er sich für die Männer freute, so konnte er nicht sagen, ob er schon jemals ein dermaßen zähes Stück Fleisch gegessen hatte. Egal wie energisch er darauf herumkaute, es behielt hartnäckig die Konsistenz von Leder.
Zusammen mit Philippe und Cisco speiste er mit dem Capitán in dessen Kajüte an einem viel zu kleinem Tisch. Für die Herrschaften hatte der Koch zu dem Fleisch eine Sauce improvisiert, dazu gab es gewässertes Brot und einen sehr süßen Madeira. Zu Hause würde Alejandro dergleichen wohl verschmähen, hier jedoch kam das Essen trotz dem widerspenstigen Fleisch einem Festmahl gleich, gab es doch in den letzten Wochen vor allem Hartbrot, Stockfisch und Pökelfleisch zu essen! Mendoza ließ zur Feier des Tages eine Ration Wein an die Männer ausgeben, was sie erwartungsgemäß mit begeistertem Gebrüll und Hoch-Rufen quittierten. Nach dem Schrecken des Sturms bettelten sie förmlich um etwas Zerstreuung. Noch während in der Capitánskajüte gespeist wurde, ertönten bereits auf dem Oberdeck die ersten zotigen Lieder. Bald vibrierte das Deck der Sangre de Dios unter dem Takt, den dutzende Füße dazu stampften.
Andreas Michels
In Oberfranken, im Jahre 1979 geboren, verbrachte Andreas Michels hier auch den Großteil seines Lebens. Erst nach einer Lehre als Industriekaufmann, gefolgt von einem zweijährigen Wehrdienst und einer Umschulung zum Konstruktionsmechaniker zog es ihn 2004 nach Regensburg. Hier absolvierte er schließlich die Prüfung zum Industriemeister und ist jetzt bei einem der großen Konzerne der Region tätig.
In seiner Freizeit beschäftigt er sich, neben dem Lesen und dem Schreiben von Büchern, gerne auch mal im Fitnessstudio oder am Spieltisch, wo es ihm Brettspiele, aber auch diverse Pen und Paper Rollenspielsysteme angetan haben. Zu guter Letzt bleibt, sofern sich dann noch die Zeit dafür findet, seine Leidenschaft für das Liverollenspiel.
Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in der Nähe von Regensburg.
Gegenstromschwimmer Verlag: Wann hast du das Schreiben für dich entdeckt?
Andreas: Das geht tatsächlich auf die sechste Klasse zurück, in der mein Deutschlehrer mich damals zum Schreiben ermutigt hat. Seitdem habe ich eigentlich immer meine Ideen zu Papier gebracht. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen, egal ob als Geschichte zum Nachlesen oder auch im Tischrollenspiel.
Gegenstromschwimmer Verlag: Was inspiriert dich?
Andreas: Hier gibt es verschiedene Ansätze. Zum einen natürlich die eigenen Rollenspielrunden, in denen man die eigene Abenteueridee mit Hilfe der Spieler zu wahrhaft epischen Momenten gesteigert bekommt. Dann auch das Leben selbst. Ich sitze gern einfach nur in einem Café und beobachte Menschen. Plotideen kommen da nahezu automatisch. Und zuletzt natürlich meine Frau, die gleichzeitig meine härteste, aber auch ehrlichste Kritikerin ist.
Gegenstromschwimmer Verlag: Welche Bücher liest du selbst gerne und warum?
Andreas: Ich lese am liebsten die Genres, in denen ich auch schreibe: Alle Arten von Fantasy, sowie Historienromane.
Und natürlich Science-Fiction, vor allem, wenn die Geschichte hierbei in einer handfesten Dystopie spielt! Ich bin mit Wolfgang und Heike Hohlbein, Bernhard Hennen, Michael A. Stackpole und vielen weiteren solcher Autoren aufgewachsen. Das prägt!
Gegenstromschwimmer Verlag: Was machst du außer dem Schreiben noch gerne in deiner Freizeit?
Andreas: Viele Dinge, die ich gern tun würde, aber so wenig Zeit um die ganzen Vorhaben auch wirklich umzusetzen. Am liebsten Tisch- und Liverollenspiel, Gartenarbeit (unwahrscheinlich entspannend) und das, was jeder Autor tun sollte: Lesen, Lesen, Lesen.
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