1.Kapitel: Sangre de Dios, 1530 a.D.
Die türkise Farbe der Karibischen See hatte sich in eisiges Grau verwandelt, welches in unablässigen Brechern gegen den Bug der Sangre de Dios donnerte. Fünf Tage stampfte die alte Karacke nun schon durch die sturmgepeitschte See, fuhr hinab in tiefe Wellentäler, nur um alsbald aus ihnen wieder emporgerissen zu werden.
An Deck trotzte, abgesehen von zwei Rudergängern und einigen Matrosen, die Wacht über die Sturmsegel hielten, nur ein einzelner Mann dem Wüten des Orkans. Von den verzweifelt arbeitenden Seeleuten ignoriert, stand er im Bug des Schiffes, krallte sich mit beiden Händen an Tauen fest und starrte auf die rasende See hinaus. Lange hatte die Gischt ihm die vornehme Blässe aus dem Gesicht gepeitscht und ihn bis auf die Knochen durchnässt. Doch ungeachtet der Kälte, die seinen Körper schüttelte, harrte der Hidalgo aus.
Ununterbrochen suchten die tränenden Augen Don Alejandro Quesadas die Kimm ab, ohne jedoch zwischen den Wellenbergen eines der anderen Schiffe des auseinandergedrifteten Konvois ausmachen zu können, zu dem die Sangre de Dios bis vor kurzem gehört hatte. Seit drei Sturmtagen fehlte von den Karacken der kleinen Flotte unter dem Kommando von Generalcapitán Francisco Pizarro jede Spur.
Ständig gewann der Wind an Stärke und hatte gestern unter den Seeleuten ein erstes Opfer gefordert. Mit Grauen dachte Alejandro an den gellenden Schrei des Mannes bei dessen Sturz aus den Wanten hinab in die tobende See. Allmählich begann er sich die Frage zu stellen, wann der Rest der Besatzung, ihn eingeschlossen, dem unglücklichen Matrosen nach-folgen würde. Ein lautes Rufen riss den Hidalgo schließlich aus seinen düsteren Gedanken und ließ ihn herumfahren. Vor ihm stand der Schiffsjunge, ein Elfjähriger mit einer Menge maurischen Blutes in den Adern. Der Knabe musste schreien, um sich mit ihm verständigen zu können. »Don Alejandro, der Capitán wünscht, Euch zu sprechen. Es ist dringend!« Die Antwort des Hidalgos bestand aus einem knappen Nicken und im Anschluss aus einem harschen Winken, mit dem er den Jungen davon scheuchte. Schweigend verfolgte er den lebensgefährlichen Rückweg des Knaben zur nächsten Luke, den er nur mithilfe der angebrachten Strecktaue bewältigen konnte.
Erst als er in der relativen Sicherheit des Unterdecks verschwand, wandte sich Alejandro wieder der wütenden See zu, um erneut in finsteren Gedanken zu versinken und mit seinem Schicksal zu hadern.
Es vergingen einige Minuten, bis er sich schließlich abwandte und wie der Schiffsjunge zuvor in die Strecktaue griff, um sich mühevoll nach Achtern in Richtung vorzuarbeiten. Als er schließlich das Heck der Karacke erreichte, zitterte er am ganzen Leib vor Anstrengung.
Er fand Capitán Mendoza in seiner Kajüte vor, wo er sich soeben im flackernden Licht einer Talglaterne über eine Seekarte beugte. Wie auch Alejandro selbst, war der Kommandant des Schiffs bis auf die Haut durchnässt, was ihm aber nicht viel auszumachen schien. Der Raum mutete kalt und klamm an wie in einer nassen Höhle. Unwillkürlich schauderte der Hidalgo und musste ob des dichten Qualms, den die Talglampe als einzige Lichtquelle im Raum abgab, mehrfach husten.
Hierauf hob sich der Kopf des Seemanns vor ihm. Er deutete eine knappe Verbeugung an, nachdem er erkannt hatte, wer sich nun mit ihm in der Kajüte befand. »Don Alejandro, ich will es kurz machen! Auf dem gegenwärtigen Kurs ist es mir unmöglich, weiterhin für das Schiff zu garantieren. Der Sturm gewinnt weiter an Stärke und wir nehmen stündlich mehr Wasser über. Gott allein weiß, wie lange die Masten noch halten!« Alejandro konnte den Mann vor sich nur schweigend ansehen, während er versuchte, die Ruhe zu bewahren. Für einen Moment fürchtete er absurderweise, dass der Capitán das Zittern seines frierenden Leibs als Furcht auslegte. Schon, weil er damit gar nicht mal so falsch lag.
Da eine Antwort ausblieb, sprach Mendoza ungerührt weiter. »Ich sehe nur einen Weg, um das Schiff zu retten: Eine Kursänderung in Richtung Süden wird uns Erleichterung verschaffen! Und so Gott will, werden wir die Küste erreichen, bevor uns die Masten brechen.« Die Hoffnung sprach deutlich aus den müden Augen des Capitáns, doch klang er gleichzeitig, als ob er mit einem begriffsstutzigen Kind redete.
Immer noch schweigend atmete Alejandro tief durch. Eine Kursänderung bedeutete das definitive Ende seiner ehrgeizigen Pläne! Pizarro hatte vor ihrer Abreise in Cádiz klargemacht, dass er ohne Rast nach Panama und dann von dort aus auf dem Landweg gen Südwesten weiterreisen würde. Eine Weile drang nur das Heulen des Sturms durch die Kajüte, bevor Alejandro den Kopf schüttelte und eine Antwort förmlich herauspressen musste. »Ausgeschlossen, Capitán!« Ohne abzuwarten, wandte er sich hastig ab. Im Gehen warf er die Kajütentür hinter sich zu.
Seine Flucht führte ihn in Richtung Bug, denn den Komfort einer eigenen Kabine konnte noch nicht einmal Alejandro auf dem rein auf Frachttransport ausgelegtem Schiff in Anspruch nehmen. Mit einem dicken Kloß im Hals stieg er die schmale Steigleiter in den Frachtraum hinab, wo sich die Konquistadoren mehr schlecht als recht mit Hängematten eingerichtet hatten. Im Schein zweier flackernder Laternen wirkten die Männer wie eine zusammengepferchte Viehherde, zwischen der nicht festgezurrte Ausrüstung bei jedem Rollen des Schiffes herumkugelte. Unwillkürlich rümpfte Alejandro die Nase, als ihm die schon altbekannte Duftmischung aus ungewaschenen Leibern, Qualm, Viehgestank und Erbrochenem entgegenkam.
Wohin er auch sah, erblickte er bleiche Gesichter mit tief in den Höhlen liegenden Augen, die ihn mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung anstarrten. Sicherlich hofften seine Gefolgsleute, etwas Aufmunterndes von ihm zu hören, doch wollte ihm nichts in den Sinn kommen. Mit zusammengebissenen Zähnen schwankte der Adlige durch den Laderaum und wurde auf halbem Weg von einem von oben kommendem Schwall Wasser erneut durchnässt, der durch ein undichtes Oberlicht hereinkam. Mit äußerlich zur Schau gestelltem Gleichmut ertrug er die eisige Kälte, bis er endlich den Bug erreichte. Dort hatten sich Alejandro und die beiden anderen Hidalgos auf diesem Schiff einen Bereich durch eine Plane abgeteilt. Kaum fiel sie hinter ihm herab an ihren Platz, da sank der Spanier mit einem erleichterten Seufzen auf seine Hängematte, schlang die Arme um den Oberkörper und schloss die Augen.
Ihm war immer klar gewesen, dass er als Viertgeborener keine großartige Erbschaft erwarten konnte, sah man vom Titel eines Hidalgo de Sangre, dem damit verbundenen guten Leumund und etlichen Dublonen ab. Statt aber den durchaus wohlmeinenden Ratschlägen des Vaters zu folgen, hatte er sich lieber dem Wein und dem Weibsvolk gewidmet.
Ein Weg in die Gosse schien ihm nach einigen Monaten der gedankenlosen Verschwendung vorgezeichnet zu sein, wäre er nicht dem Werber des Generalcapitáns in die Arme gelaufen, der wagemutige Männer von Stande wie ihn suchte. Damals klang es einfach zu verlockend. Eine Expedition unter der Führung von Francisco Pizarro höchstpersönlich in einen bis dato unbekannten Teil der Neuen Welt, bei der es Gold und Ruhm für jeden Teilnehmer in Massen geben sollte. Alejandro investierte, ohne lange zu überlegen, sein verbliebenes Vermögen und verschuldete sich darüber hinaus zu unverfrorenen Zinsen bis über beide Ohren. Die mit diesem Geld aufgestellte Einheit hätte ihm einen ordentlichen Anteil am erzielten Gewinn der Unternehmung gebracht. Doch nun schien es, als ob ein verdammter Sturm all seine Träume zerschlug, ohne dass er auch nur die Chance bekam, gegen die Heiden zu ziehen...
Erst mit deutlicher Verzögerung wurde er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der beiden anderen Anwesenden bewusst und öffnete langsam die Augen, um seine Offiziere zu mustern. Philippe entstammte, wie er selbst, der Familie eines Granden. Ciscos Abstammung dagegen wies auch im besten Licht betrachtet wenig Glanzvolles auf. Doch umso glorreicher mussten die Taten des älteren Kämpen während der Reconquista gewesen sein, denn nur so ließ sich eine Erhebung in den Adelsstand erklären. Aber auch in Sachen Erscheinungsbild gab es merkliche Unterschiede. Don Cisco wies die breiten Schultern und harten Hände eines Mannes auf, der mittlerweile jahrzehntelang dem Kriegshandwerk nachging. Bart und Schläfen des Hidalgos zierte bereits das Grau des Alters. Philippe dagegen zeichnete sich durch eine eher zierliche Statur aus und war mit einem ausnehmend hübschen Gesicht gesegnet, dessen helle Haut fast schon an schimmerndes Porzellan erinnerte.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte ihn der Jüngling an. »Wie sieht es aus? Wird es bald besser?« Noch bevor Alejandro den Mund öffnen konnte, kam aus Ciscos Richtung ein verächtliches Schnauben. Dieser lag auf seiner Hängematte ausgestreckt und ließ ein Bein lässig über den Rand hängen. »Unser junger Freund hier hat nichts mehr im Magen, um die Fische zu füttern, musst du wissen!«
Philippe setzte sichtlich erbost zu einer Antwort an, doch schaffte Alejandro es, ihn mit einer harsch erhobenen Hand zur Räson zu bringen.
Schon seit dem Ablegen gab es zwischen den beiden Hidalgos Querelen, die einen beständigen Quell von Ärger für ihn darstellten. Für gewöhnlich ließ er sie gewähren, nun aber widerte ihn das Gehabe der beiden nur an. »Ruhe, verdammt noch mal!«, rief er und versuchte gleichzeitig, seine Gedanken trotz der Kälte zu ordnen. Ehe er jedoch versöhnliche Worte fand, zog sich Philippe unvermittelt auf die Beine und stolperte würgend aus dem Verschlag.
Perplex sah Alejandro ihm hinterher, bis Ciscos gebrummter Bass an sein Ohr drang. »Wie schlimm ist es?« Erst nach energischem Räuspern gelang es dem Hidalgo, eine Antwort zustande zu bringen, so schnürte es ihm den Hals zu. »Der Sturm nimmt zu, Mendoza will gen Süden abdrehen«
Das wettergegerbte Gesicht seines Gegenübers verdüsterte sich, bevor er nickte. »Ist wahrscheinlich die beste Lösung. Ich mag nicht viel von Seefahrt verstehen, aber falls wir entmastet werden, hilft uns nur noch beten.« Alejandro wollte schon auffahren, jedoch kam ihm Cisco mit abwehrend erhobener Hand zuvor. »Ich weiß, was das bedeutet! Doch selbst wenn der verehrte Padre Miguel anderer Meinung ist, können die Indios noch etwas auf ihre Bekehrung warten. Dafür müssen wir es nämlich erst einmal lebend in die Neue Welt schaffen!« Kurz hielt Alejandro dem Blick seines Gegenübers stand, bevor er den Kopf senkte und sich mit zitternder Hand durchs nasse Haar fuhr. »Damit verlieren wir gemäß den Statuten der Capitulación jeden Anspruch auf einen Anteil an Pizarros Expedition!«
Abermals schnaubte der alte Hidalgo. »Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn wir diesen Hexentanz überlebt haben!« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und vergiss nicht: Pizarro ist in genau denselben Sturm geraten! Möglicherweise finden wir ihn und den Rest der Expedition an der Küste!«
Wortlos sah Alejandro Cisco an, derweil um sie herum das Schiff ächzte und knarrte, als wollte es jeden Moment auseinanderbrechen. Täuschte er sich oder nahm der Sturm auch jetzt noch weiter an Kraft zu? Vernunft, Angst und Stolz trugen in ihm einen wilden Kampf aus. Konnte man ihm eine Meinungsänderung so kurz nach seiner Absage nicht als ein Zeichen von Schwäche auslegen? Und was würden die Männer sagen? Nun lag es an Alejandro, zu schnauben. Wahrscheinlich recht wenig, wenn er bedachte, wie dieser ängstliche Hühnerhaufen sich im Laderaum zusammen-kauerte. Allesamt Hafenarbeiter, Bauern und Tagelöhner, die für das Versprechen von Reichtümern ihr Kreuz gemacht hatten.
Schließlich fällte er eine Entscheidung und erwog noch auf Philippes Rückkehr zu warten, um sie mit ihm zu besprechen. Aber zum einen schien dieser sowieso ganz unstandesgemäß die Hosen voll zu haben und zum anderen oblag Alejandro als Haupt-zahlendem letztlich die Befehlsgewalt. Also setzte er sich auf und rief Paco. Sein Diener erschien nach einer für ihn ungewöhnlich langen Wartezeit, um mit sichtlich blassem Gesicht Anweisungen zu erwarten. Alejandro reckte forsch das Kinn vor und überging wissentlich den erbärmlichen Zustand des jungen Lakaien. »Paco, werde beim Capitán vorstellig und richte ihm aus, dass er den Kurs ändern kann, wenn er dies zur Rettung des Schiffes für unbedingt notwendig erachtet!« Die Antwort des Dieners bestand aus einem eiligen Kratzfuß, gefolgt von einem hastigen Abgang.
Reglos sah Alejandro ihm nach, bevor Kälte und Übermüdung ihren Tribut zu fordern begannen und der Hidalgo hintenüber auf sein Lager sank, um in einen unruhigen, von Albträumen geschüttelten Schlaf zu fallen.
Zur Rezension